Das germanische Heidentum ist vielschichtig und es verbirgt sich hinter unterschiedlichen Namen. Im Internet und der gängigen Lektüre gibt es zahlreiche sehr gute Erläuterungen hierzu, insbesondere zu Ásatrú. Daher werde ich das nicht weiter vertiefen. Auch ein großer Teil unserer Gruppe rechnet sich wohl eher dieser Sparte zu. Dieser Artikel versucht nun allerdings etwas abseits zu graben und aufzuzeigen warum die Bezeichnung Ásatrú für mich keine primäre Rolle spielt, ich mich aber dennoch einen germanischen Heiden nenne. Ich schneide dabei Dinge an welche meiner Meinung nach häufig – wenn auch unbeabsichtigt – von vielen Heiden und Nichtheiden unbeachtet bleiben, aber dennoch interessant zu wissen sind. Wie es mit der eigenen Meinung so ist, sind die folgenden Aussagen mitunter nicht für jedermann gültig; sollen viel mehr zum Mitdenken anregen.
Jeder Heide welcher seine Religion nicht ausschließlich esoterisch auslebt, versucht sich Informationen zu beschaffen wie sie anno dazumal ausgelegt und ausgelebt wurde. Ein Großteil der Heiden bezieht sich dabei meiner Meinung nach überwiegend auf skandinavische oder isländische Hinterlassenschaften und bezeichnet sich daher als Ásatrúar. Zugegebenermaßen ist die Quellenlage in diesem Teil Europas verhältnismäßig gut. Weniger Heiden beziehen sich auf kontinentalgermanische Bereiche oder evtl. auch angelsächsische. Hier trifft man häufiger auf den Begriff der Firnen Sitte – welcher den Kult und die Gebräuche unserer vorchristlichen Ahnen bezeichnet – beziehungsweise die Selbstbezeichnung Firnleute. Im Vergleich zum Norden ist die Quellenlage allerdings katastrophal sowohl Mythologie, Kult, wie auch tägliches Leben betreffend. Dazwischen gibt es sicherlich auch eine Gruppe welche aus beiden Teilen Informationen abzieht und weniger lokal fixiert ist. Dies ist in unserer Stammtisch- und Blozgruppe nicht anders. So viele Gesichter, so viele Meinungen gibt es.
Ich persönlich versuche beim Ausleben meiner Religion einen starken lokalen Bezug zu schaffen, habe aber auch ein großes Bedürfnis nach Rekonstruktion, Authentizität und Vernunft. Das fängt bei Kleinigkeiten an, indem ich versuche statt (alt)nordischen althochdeutsche (bzw. dialektische) Begrifflichkeiten zu verwenden: ich sage nicht Blòt oder Thor oder Frigg sondern Bloz und Donar und Fria. Es geht aber natürlich noch viel weiter: bei jedem religiösen Inhalt muss ich die Überlegung anstellen ob er für mich echt – also lokal relevant und tatsächlich heidnisch – ist, heute überhaupt noch auslebbar – man denke an heutige humanistische Ethik – ist oder wenigstens plausibel erscheint und ob er mit meiner naturalistischen Weltanschauung einhergeht, also nicht im Jenseits und Unbeweisbarem schwelgt.
Darüber hinaus ergibt sich für mich ein massives Quellenproblem. Es gibt schlichtweg kaum erhaltene Nachweise für ein praktisches germanisches Heidentum außerhalb Skandinaviens, geschweige denn in der Eifel oder der Region Trier. In meiner Heimat kommt noch hinzu, dass die historische Bevölkerung bis zur Zeitenwende – spätestens aber der Völkerwanderung – wohl eher Kelten und Römern zuzurechnen war als denn Germanen. Abgesehen davon ist gerade die römische Kaiserstadt Trier ein Brennpunkt des christlichen Glaubens geworden und die später ansässigen germanischen Franken wohl eher nicht als Heiden zu bezeichnen. Einzelne potentielle Eifeler Heidenhöfe – um nicht von Hinterwäldlern zu sprechen – sind erst recht dünn dokumentiert. Diese Region ist also über einige hundert Jahre hinweg einem starken Nebeneinander und Nacheinander ausgesetzt gewesen, was es unmöglich macht von einer vermeintlichen einheitlichen Religion unserer Ahnen zu sprechen. Historisch gesehen macht die Bezeichnung Ásatrú also keinen Sinn, abgesehen davon, dass sie ein Neologismus aus dem 19. bzw. 20. Jahrhundert ist. Da die Bezeichnung Firne Sitte tatsächlich historisch zur Abgrenzung vom Christentum verwendet wurde und nicht auf einen bestimmten Kult fixiert ist, mag sie etwas neutraler sein. Man vergleiche auch den nicht unähnlichen römischen Mos Maiorum (lateinisch für „Sitte der Vorfahren“).
Doch warum verfolge ich dann ausgerechnet ein eher germanisch geprägtes Heidentum wo doch kaum ein heidnischer Germane hier lebte? Zum einen einfach weil ich mich dazu hingezogen fühle, rein aus dem Bauch heraus, ganz irrational; es fühlt sich richtig an. Müsste ich es dennoch mit dem Kopf erklären, dann könnte ich diverse Gründe vorbringen. Zusammenfassend sind es diese vier; wobei sich zwei auf das Heidentum allgemein und zwei auf Firne Sitte im Konkreten konzentrieren:
Erstens habe ich das Bedürfnis mich vom Christentum abzugrenzen. Der christliche Anspruch auf Absolutheit und der vorherrschende Dogmatismus stehen für mich in starkem Widerspruch zu kultureller Vielfalt, Entwicklungsfähigkeit und demokratischen Werten. Ich habe teils erhebliche Probleme einer christlichen Moralvorstellung oder gottgegebenen Dingen in den Ausführungen anderer zu folgen. Die harsche Unterscheidung in Gut und Böse, in moralisch wahr und moralisch falsch mag zwar einige Dinge im Leben einfacher machen, entspricht aber meiner Erfahrung nach nicht der Realität, ganz davon abgesehen, dass sie die Menschheit vor erhebliche ethische Probleme stellt. Das menschliche Handeln ist überaus komplex und ambivalent und benötigt daher einen entsprechend komplexen Spiegel.
Zweitens bieten im Gegensatz dazu gerade vorchristliche, heidnische Religionen aufgrund ihrer dünnen Quellenlage die Möglichkeit zur Interpretation und Freiheit. Das mag für den ein oder anderen zur Willkür verleiten. Für mich ist es aber Grundlage für individuelle Glaubensvorstellungen innerhalb einer Religion ohne dabei den gemeinsamen Kult zu verlassen. Darüber hinaus zeigen die belegten Überbleibsel in den seltensten Fällen Anzeichen für Absolutheitsansprüche, Dogmatismus oder zwingend zu befolgende göttliche Weisungen. Sie sind sogar so frei, dass sie erlauben, ein naturalistisches, aufgeklärtes Welt- und Gottesverständnis zu praktizieren ohne in Widerspruch mit sich selbst zu geraten. Selbst die Religionskritik von Humanismus und Atheismus ist auf ein Heidentum wie ich und andere es leben nicht anwendbar. Dies haben bereits antike Philosophen erkannt. Es ist aber leider in den Köpfen weniger verblieben und hat nie den Weg in die Gedanken der breiten Masse geschafft.
Drittens war und ist das was sich an heidnischem Rest – jeweils bezogen auf die jeweilige Region – in unsere heutige Zeit gerettet hat, Bestandteil unserer Kultur geworden und hat daher einen unbedingten Erhaltungswert. Man denke an Sagen und Märchen, an Brauchtum und Ausgrabungen vergangener Zeiten. Gerade die Firne Sitte beinhaltet eine tiefe Erinnerungskultur über zwei Ebenen hinweg: über Individuen der persönlichen Ahnenreihe aber auch über gesellschaftliche, überpersönliche Leistungen und Geschichten. Das Wissen über die vergangene Kultur und Natur ermöglicht es uns, unser heutiges und zukünftiges Leben zu definieren. So gibt es einige germanische – aber natürlich nicht ausschließlich – Bestandteile, beispielsweise von sprachlicher Gestalt, welche wir durch die fränkische, in unsere heutige Kultur mitgenommen haben. Und über diese Kulturbestandteile besteht wiederum eine Verbindung zu den antiken heidnischen Völkern meiner Heimat.
Viertens sprechen mich einige Konzepte der germanischen Gesellschaft – die Firne Sitte als religiöser Ausdruck ist hiervon eigentlich nicht zu trennen, sondern war immer Bestandteil der Gemeinschaft – und der Mythologie besonders an. Natürlich sind diese wiederum überwiegend in nordischen Quellen belegt, aber es finden sich auch Anklänge in südgermanischen Überlieferungen. So ist das Schicksal eines Menschen nicht vorbestimmt, und eben doch nicht frei wählbar. Stattdessen bewegen sich Individuen und Kollektive in einem Schicksalsnetz; schöpfen dabei ihr eigenes Heil, leben aber unter den Bedingungen die sie und andere schaffen. Sie stehen damit sogar im Einklang aktueller Hirnforschung. Die Erinnerungskultur habe ich bereits in Punkt drei angesprochen. Darüber hinaus zeichnen sich sowohl die Menschen- wie auch die Götterwelt durch einen recht starken Pragmatismus aus; man ist sich der eigenen Ambivalenz bewusst. So gibt es dann auch keine Erbsünde oder ein Erlösungsbedürfnis sondern nur eine „Sünde“ gegenüber einer durch die Gemeinschaft aufgestellten Moral. Durch die Nichtexistenz des objektiv Negativen, wie des objektiv Positiven ist das germanische Denken damit auch erstaunlich kompatibel zu evolutionär-humanistischer Ethik.
Und so kommt es, dass sich meine Gedanken und meine Gebete in althochdeutschen Begriffen und Stabreimen ausdrücken, die von mir verehrten und betrachteten Gottheiten durch ihre Lokalität aber keinen Hehl daraus machen, dass sie nicht zwangsläufig germanischen Ursprungs sind. Und dennoch waren und sind sie hier heimisch. Ein schönes Beispiel für diese Vielfalt sind die für mich besonders wichtigen Matronen; die Muttergöttinnen keltisch-germanischen Typus aus der Nordeifel, welche aber insbesondere durch den römischen Votivkult überliefert sind und selbst bis heute von Katholiken regelmäßig besucht und verehrt werden.
Zur weiteren Lektüre empfehle ich den Blog einer Mos Maiorum Gruppe in der Nordeifel über eine etwas andere Religion unserer Ahnen (Mos Maiorum – Der Römische Weg), Bücher über die Unterscheidung von Gut und Böse (bspw. „Jenseits von Gut und Böse“ vom humanistischen Philosophen Michael Schmidt-Salomon), sowie das Buch welches mir schlussendlich gezeigt hat, dass ich ein Heide bin: „Aufgeklärtes Heidentum“ vom Vorsitzenden des Eldaring e.V. Andreas Mang.
One thought on “Warum ich mich nicht Ásatrúar nenne”
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